Corona-Tagebuch 29.5.2020: Susie (Teil 5)

29. Mai 2020 / Autor: Karin Winklhofer

Normalerweise gibt es hier freitags immer unseren Wochenrückblick. Im Moment finden aber ja kaum Arbeitskreise und andere Sitzungen statt und es gibt nicht so viel Spannendes zu berichten. Daher gibt es, für die „Corona-Zeit“, stattdessen jetzt die Rubrik „Corona-Tagebuch“. Hier möchten wir Einblick in unseren neuen Alltag gewähren und natürlich auch Tipps und Neuigkeiten mit unseren Leser*innen teilen. Am Ende dieser Blogbeiträge informieren wir natürlich auch ganz knapp, was sich im Netzwerkbüro sonst so berichtenswertes getan hat.

 

Heute ist es wieder unsere Sprecherin Susie Kempa, die ihren von Corona beeinflussten Alltag schildert.
Hier findet Ihr Teil 1, Teil 2 , Teil 3 und Teil 4 ihres Corona-Tagebuchs.

 

Susies Corona-Tagebuch (Teil 5)

 

Sonntag 17. Mai 2020

!!! Eventuell Positiv !!!
Ich bin gerade unruhig, Angst habe ich direkt nicht, ich weiß auch nicht. Es ist … 😯

→ Der Körper von behinderten und chronisch kranken Menschen ist ABHÄNGIG von Krankengymnastik, Logopädie, Schmerzbehandlungen, von Unterstützungen.
Fehlende Therapien oder eine Mehrbelastung führen zu Krämpfen, Spastiken, Schmerz-, Überbelastungen etc. Unser körperlicher Zustand verschlechtert sich, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche.

Jetzt, … jetzt war sie zweimal da, – und jetzt, jetzt ….

Heute Mittag wurde ich von einer Therapeutin informiert, das sie positiv getestet worden ist. !! POSITIV !! Ich musste alles zweimal gesagt bekommen; ich wollte, glaube ich, nicht verstehen.
# Sie weiß es seit Samstag Spätabend.
# Sie hat keinerlei Symptome — niiiichts.
# Sie hat sich nur kontrollieren lassen … über diese Generalkontrolle, nicht weil sie Anzeichen hatte.
→ Sie hatte den letzten Mittwoch erzählt, dass sie nach viel Kampf und „Vorschrifts-Penibilität“ endlich alle wieder auf Intensiv… arbeiten durften. Ende der Woche werden dazu sämtliche Stationsschwestern/-pfleger und Physiotherapeuten general-kontrolliert. (Auf Corona gestestet.)
# Positiv
# Gesundheitsamt ist noch nicht informiert, da Wochenende ist
# Sie hat mich als sehr nahe Kontaktperson gemeldet

In meinem Kopf schwirren 100 Gedanken, oder waren es doch nur 30? 😕 Was muss man zuerst denken, oder später? Wen rufe ich zuerst an? Ist es zu voreilig? Und wie verhalte ich mich richtig, ohne sich Ärger einzuholen oder jemandem auf die Füße zu steigen? Vielleicht ist etwas zu vergessen strafbar? 😯
Wie läuft das mit dem Gesundheitsamt, wenn die jetzt nicht ansprechbar sind. Einfach warten? Wer wird Weiteres regeln? ❓

„In der Presse machen sie immer gleich so viel Wind, von wegen Sofortmaßnahmen etc. und jetzt, jetzt passiert nichts“.
O. k. warten. Nachdenken. Pflegedienstleitung informieren.

Wer nimmt bei einem schwerstkörperbehinderten Menschen die Abstriche ab? 😐

Arzt fragen, ob er mir weiterhilft? Nachrechnen, wie viele Tage es schon her ist …
4, ja 4 Tage! Habe ich Anzeichen? Was fühle ich? ❓
Außer Hilflosigkeit, keine Anzeichen. Temperatur 36,2 °C.

Was bedeutet es für meinen Sohn, meine Leute (Pflegedienst) und mich?
Wer „verordnet“ die Quarantäne? Welcher Zeitpunkt ist rechtskräftig? 14 Tage Quarantäne, die der Arzt bestätigen kann? Das Gesundheitsamt legt‘s fest.

Wird es mir schlecht gehen? Muss ich ins Krankenhaus? Gehöre ich dann zu den Patienten die sterben?

17:30 Uhr

Inzwischen bin ich ruhiger geworden. Irgendwie kann man nichts erreichen, außer warten.
Unter anderem mit Pflegedienst ein paar Mal telefoniert → werde nicht ins Krankenhaus müssen, Schutzmaßnahmen werden verschärft, mein Team + Sohn + ich bleiben als geschlossene Einheit bestehen. Darüber bin ich sooo sehr froh. ❗

Der Arzt wollte heute routinemäßig vorbeikommen. Er kommt nicht. Warum jetzt, warum??? 😕
Ich habe noch Hoffnung, bis 20:00 Uhr.
Inzwischen war mein Sohn (20) kurz zu Hause. Ich hatte ihn informiert, wollte reden, hatte keine Chance. Ich denke, er war so erschrocken, darum ist er gegangen. Ich fühle mich ziemlich schuldig. 😥
Ich beschränke ihn in seiner Freiheit und seiner Arbeitskraft. Probleme kommen!!

20:00 Uhr:

Mein Arzt war nicht da und das ist total dooooof. Horror-Lauf ab morgen

Info: Test auf Corona-Virus: Wann und wie werden sie durchgeführt?
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/BMG_BZgA_Coronavirustest_Plakat_barr.pdf

Wenn das Ganze nur nicht immer, auch ohne Corona, in schlechter medizinische Versorgung für schwerstkörperbehinderte Menschen enden würde.
Jetzt muss ich mich den Machenschaften des Gesundheitsamtes überlassen. 🙁
Schicken Sie mich mit einem Corona-Taxi zur Feuerwehr zur Teststation?
Ich denke nicht, dass es befahrbare rollstuhlgerechter Corona-Taxen gibt, so spontan, auf die Schnelle, so dass ich davon ausgehe, dass sie kommen.
!!!Das wird wie im Fernsehen sein!!!  😯 😮
Kennt ihr die, die von oben bis unten hin angezogen sind und vor dem Gesicht eine Maske haben, in schwarz?
Morgen wird das Gesundheitsamt vermutlich informiert sein, und dann kommen wahrscheinlich so weiße Männer in meine Wohnung und die sind von oben bis unten angezogen, so als ob ich radioaktiv wäre. … und alle Nachbarn werden sie sehen, und alle wissen …😳

Problem ist, wie viele es kennen, die Ärzte kennen sich nicht aus, es wird dadurch gefährlich. Ich bin beatmet, Abstriche werden dann üblicherweise über die Kanüle genommen, sie könnten die Luftröhre verletzen und dann ist es eine Wunde und wieder eine hohe Infektionsgefahr. Etc.

23:00 Uhr

Gedanken und Telefonate. Im letzten Telefonat wurde ich gefragt, ob mein Sohn in die Arbeit gehen darf. Eine gute Frage, mein Sohn bejahte, ich bin mir unsicher.
Wir müssen uns sowieso die ganze Zeit schon aus dem Weg gehen. Theoretisch haben wir also keinen Kontakt. Er könnte eigentlich gehen.
Oder: Offiziell: Gemeinsame Wohnung = gemeinsame Quarantäne.
=> Es würde eigentlich aber auch heißen, dass, wenn er nicht dürfte, eigentlich die Personen, die im gleichen Haushalt mit meinen Pflegerinnen leben, auch alle in Quarantäne müssten. Was für eine Menge an Menschen?
Bemerkung: Pflegerinnen kommen nicht in Quarantäne, solange sie nicht positiv sind, selbst wenn ich positiv wäre müssten sie zu mir kommen.
Ich hatte keine offizielle Antwort – woher auch. 😕 ❓

Was könnte passieren?
1. Möglichkeit: Er geht in die Arbeit und darf es unwissentlich nicht – sehr hohe Strafen.
2. Möglichkeit: Er geht nicht, bekommt aber keine AU – könnte sehr ungut ausarten.

Internetrecherche, die Suche nach Antworten und Telefonnummern. Vergeblich! Zu spät.
Ich rief den Bereitschaftsdienst 116 117 an. Bandansage mit vielen Auswahlmöglichkeiten, nur nicht unsere. Aufgelegt. Noch einmal. Wieder aufgelegt.
Ich will nicht schuld sein an seinen Strafen. Ich fand keine schlüssige Antwort. Ich bin sehr unruhig, was sich im Puls widerspiegelt. 😐

Bleibt gesund!
susie.kempa@netzwerkfrauen-bayern.de

 

Montag 18. Mai – 5.Tag nach dem Kontakt – 1. offizieller Quarantänetag

9:00 Uhr

Ich fühle mich grausam. Nicht geschlafen. Körperlich unverändert.
Ich fing an zu telefonieren, wurde angerufen, sagte die restlichen Therapien ab (man spürt die Angst der anderen), wurde von der „Kontaktperson“ angerufen, wartete. Es war ein Telefonchaos ohne Antworten. Auch mein Pflegedienst wusste keine 100 %igen Antworten.
Das schlimmste: Die Praxis- und auch die Handynummer meines Arztes funktioniert nicht.
Ich glaube 5 Leute versuchten es inzwischen.

Ich will keine weißen Männer! 😐
Die Schicht von meinem Sohn war auf Spätschicht, es verblieb noch Zeit.

Sicher war, dass ich durch die Kontaktperson (und den Pflegedienst) inzwischen gemeldet war.

Ca. 11:00 Uhr

Ich weiß es gar nichts mehr vor lauter telefonieren.
Mir wurde erzählt, dass die Praxis-Telefonnummer meines Arztes funktioniert. Anscheinend hatten andere jetzt schon einige Fragen abgeklärt, nur irgendwie nicht wirklich meine. 😕

Mittag
– ich rief in der Praxis an.
Missverständnisse über Missverständnisse. Mehrere Köche verderben den Brei.
Es hieß, mein Sohn könne arbeiten, darf mich aber nicht besuchen. ? ❓
Die nette Dame am Telefon war, verständlicherweise, verwundert über meine so anderen Fragen. Sie kontaktierte zweimal ganz, ganz kurz den Arzt.

= > Ich bin gemeldet, wahrscheinlich das 3. Mal.
Mein Sohn hat doch Quarantäne, wie ich, jetzt ganz offiziell.
Ausgangs- und Kontaktverbot, klar!
Wieder erhöhte Schutzmaßnahmen, sodass selbst ich, bei der Pflege, eine FFP2-Maske tragen muss.
Das wichtigste: !!! Am Donnerstag kommt der Arzt zu mir und ich habe keine weiteren Anzeichen!!!
Keine weißen Männer, er darf „in weiß“ kommen.

Nebenbei erwähnt:
Mein Sohn muss am Donnerstag Nachmittag für einen Test zu ihm kommen. Er soll draußen läuten und auf der Straße warten, keinesfalls hineinkommen.
Er darf keinesfalls mit öffentlichen Verkehrsmittel kommen, und muss sich von jedem Bürger fernhalten.
Zu Fuß ❗ , bzw mit seinem Longboard.
Wahnsinn, 2 Std. 20 Minuten Fußweg hin, und zurück das gleiche nochmal. 😯

Die damals diensthabende Pflegerin hat morgen früh, Mittwoch, einen Termin in dem „Corona-Feuerwehr-Test-Gebäude“.
Sie sollte bevorzugt mit einem speziellen Corona-Taxi kommen, das vorbestellt werden sollte. Vielleicht kennt ihr die Testvorgänge aus der Presse, – die Personen dürfen nicht aussteigen, sie werden vom „Auto aus“ (durchs Fenster) getestet. Es gibt anscheinend 2 farblich gekennzeichnete Wege. Einer für die, die vom Gesundheitsamt hin berufen worden sind, und der andere vom Arzt (oder so).
Entschuldigung, aber ich konnte mir nicht verkneifen, dass mich das Ganze an Schlachthöfe erinnert… 😳

Bleibt gesund!
susie.kempa@netzwerkfrauen-bayern.de

 

Mittwoch 20. Mai

Das Testergebnis der Pflegerin ist da: NEGATIV. 🙂
Sie erzählte, dass es schon eine sehr bedrückende Stimmung war. Isoliert, im kleinen Bus hinten, auf einem eingezäunten Weg von zweien, auf dem Weg zu schwitzenden „Astronauten in selbstgebastelter Montur mit Mehrfachhandschuhen“, die leider keine schöne Mondfahrt im Angebot hatten, sondern nur wollten, dass man den Mund öffnet, damit sie 3x mit ihrem Stäbchen so weit wie möglich hinter kommen. Schön ist anders. 😐

Bleibt gesund!
susie.kempa@netzwerkfrauen-bayern.de

 

Donnerstag 21. Mai – „positiv oder negativ, das ist hier die Frage“

Es geht mir körperlich unverändert, außer dass mein Puls erhöht ist, wahrscheinlich aufgrund meiner Nerven, die sind eine andere Sache. Ich habe unverändert Angst.
Heute um 11:00 Uhr war der Arzt da und hat mir das Stäbchen durch die Nase bis in meine letzte 😉 Gehirnzelle geschoben. Auch meinem Sohn. Ich habe eine sehr enge Nase, mein Sohn anscheinend nicht.
Ich spüre jetzt noch, 20:20 Uhr, ganz leicht was er im linken Nasenloch gemacht hat. Mein Sohn hat nach 1 Stunde nichts mehr gespürt.
Der Arzt war da, wie schön, ich muss nicht unmöglich umständlich zu dieser Feuerwehr, oder einen Bereitschaftsdienst über mich ergehen lassen. Er war nicht als „Astronaut“ da. Ich war erleichtert. Es beruhigte mich irgendwie. 🙂

Jetzt, im Nachhinein ärgere ich mich so so sehr über meine Fantasien. Warum habe ich mich so von anderen beeinflussen lassen, und vor allem von der Presse?

Seit Februar kam er sowieso geschützt, mit FFP 3 Maske etc. Warum sollte es jetzt anders sein? Die Maske war halt noch mal sicherer, aber sonst. Ich kenne es nicht anders und es ist schon leider inzwischen normal geworden.
Meine Therapeutin hat inzwischen leichte Atembeschwerden, das Atmen ist etwas anstrengend. Für sie nicht besorgniserregend, für mich könnte es tödlich sein.
Morgen kommt das Ergebnis.

Bleibt gesund!
susie.kempa@netzwerkfrauen-bayern.de

 

Freitag 22. Mai – Testergebnis

Mein Arzt hat mich angerufen, 20:50 Uhr, und meinte, mein Sohn und ich sind beide NEGATIV. ❗ ❗ ❗
Wir sind wieder für die Gesellschaft freigegeben! Jippieh 😀
Ihr könnt Euch nicht vorstellen wie groß der Stein war, der von mir hinab fiel! 🙂

Achtet auf Euch, es geht so schnell und unerwartet. Man sieht es nicht.

Bleibt gesund!
susie.kempa@netzwerkfrauen-bayern.de

 

Foto-Collage von Susie Kempa. Entstanden im Rahmen des Foto-Voice-Projekts. Zu sehen: Hände, erhoben und gefaltet, Susies Oberkörper mit einem schwarzen T-Shirt bekleidet, auf dem bunte Herzen sind, daneben ein Teil einer Computertastatur. Die Schrift "Hearts" ist groß auf dem Bild und im Hintergrund sieht man Anthony Hopkins von einem Buchcover mit erhobener Hand, die Handfläche nach außen.

Susies Hand in Hand; „Gedanken-Bild für diese Zeit“ aus dem Foto-Voice-Projekt

 

 

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